Berlin – Tiergarten. Blätter säumen den Weg. Ein verregnetes Grau bedeckt den Himmel. Es ist einer der ersten Herbsttage. Wir stehen vor Boris Radczun´s Wohnungstür. Er empfängt uns freundlich. Sein Retriever-Mischling dagegen reagiert euphorisch. Wir betreten die 200 qm große Altbauwohnung. Riesige Fenster lassen, das, noch vorhandene, Licht durch die Wohnung strömen. Spartanisch aber elegant eingerichtet. Leer und doch mit vielen durchdachten Details besticht sie durch einen ganz eigensinnigen Charme. Dekoration ist für Boris eine Reise, die niemals endet. Jedes Zimmer hat das Recht auf lebenslange Veränderung. Nichts ist endgültig.
Boris Radczun, ursprünglich Rheinländer, fand Anfang der 90er Jahre seinen Weg über ein Architekturstudium nach Berlin. Türsteher, DJ, Barkeeper, Koch, Clubbesitzer. Boris ließ nichts aus. Er führte zusammen mit Oskar Melzer den berühmten Pogo Club und eröffnete das erste Restaurant im Cookies. Der Weg zum Grill Royal war nicht weit. Das, neben dem Borchardt, wichtigste Restaurant der Stadt gehört ihm heute zusammen mit Stephan Landwehr. Die Jahre an Erfahrung und Leben haben ihn geprägt. Ruhe und Gelassenheit strahlt Boris heute aus.“Jeder wird irgendwann älter” sagt er und lächelt dabei. Sein Leben ist Avantgarde und der Stolz darüber in jeder einzelnen Antwort spürbar. Gerade kommt er vom Land. In Märkisch-Wilmersdorf bezieht er mit einem Freund ein Landhaus.
Was Boris über das Nachtleben in Berlin denkt, warum er am liebsten Schmorgerichte isst und wohin er fährt, wenn er Urlaub machen will, erfahrt ihr im anschließenden Interview.
Seit wann lebst du in Berlin?
Ich bin gebürtiger Düsseldorfer und kam 1994 nach Berlin, glaube ich. Vielleicht war es auch 1993.
Bist du nach deiner Ankunft in Berlin direkt ins Gastronomiegewerbe eingestiegen?
Nein, gar nicht. Ich hatte bereits eine Freundin hier in Berlin, mit der ich damals bereits zwei Jahre zusammen war. Zu dieser Zeit habe ich Architektur studiert und bin immer in den Semesterferien und fast jedes zweite Wochenende zurück nach Düsseldorf gefahren. Irgendwie wollte ich gar nicht in Berlin ankommen oder habe mich dagegen gewehrt.
Zu diesem Zeitpunkt sah Berlin wahrscheinlich auch noch anders aus?
Ja. Die Lebensmittelpunkte, die man hatte, waren irgendwie nur Schöneberg und die Architektur-Uni am Ernst-Reuter-Platz. Ich habe damals auch im Westen gewohnt. Erst in Moabit, dann in Schöneberg und 1997 bin ich dann nach Mitte gezogen. Zu dem Zeitpunkt war das schon total touristisch und immer super viel los. Im Osten gab es ja ganz früher nur das “Hackbarths” und das “Obst und Gemüse”. Da waren im Sommer immer ungefähr 400 Leute vor der Tür.
Wolltest du schon immer in die Gastronomie?
Während des Abiturs habe ich bereits gekellnert und später neben dem Studium ein One-Man-Catering aufgebaut und das hat mir richtig Spaß gemacht. Dadurch bin ich auch an diverse Kontakte gekommen. Ich habe mich damals schon gerne mit dem Kochen beschäftigt. Bin ständig auf Märkten gewesen oder im KaDeWe, um zu schauen was es alles gibt. Gleichzeitig habe ich auch sehr viele Platten gesammelt und dann meinte mal jemand, ich müsse unbedingt mal auflegen. Das erste Mal aufgelegt habe ich dann im „Oxymoron“ und der Partyveranstalter war Ero, der danach bei mir Chefkellner wurde, in dem Restaurant über dem „Cookies“.
Wie ist dein Leben danach verlaufen?
Was waren deine verschiedenen Stationen? Ich hab Bar im „Cookies“ gemacht. Im “WMF an der Bar gearbeitet. Dann die Tür im “Cookies ” gemacht. Das war eine sehr lustige Zeit und man hatte extrem viel Kontakt mit Menschen. Du wirst auch relativ schnell bekannt als Türsteher. Dann habe ich das “Pogo” mit Oschi (Oskar Melzer) gemacht. Das “Pogo” wurde dann zum “Fun”. Etwas sehr Schönes, das ich zwei Jahre machen durfte, war das Straßenfest in der Gipsstraße.
Sind manche deiner Verbindungen von heute, Freunde oder Bekannte aus Studienzeiten?
Nicht sehr viele. Meine Studienjahre waren seltsam. Erst wollte die eine Hälfte eigentlich Künstler werden, die andere Brückenarchitekt und dann mit der .com-Blase wollten alle digital arbeiten. Start-Ups aufmachen. Wir waren auch einfach zu viele in dem Studiengang. Ich denke, nur ein Drittel von den Leuten, die mit mir studiert haben, sind heute Architekten. Die Hälfte auf jeden Fall hat etwas ganz Anderes gemacht. Clubs zum Beispiel.
Man sagt im „Grill Royal“ herrscht eine Wohnzimmeratmosphäre, die einen immer wieder kommen lässt. War das auch eure Absicht, so eine Stimmung herzustellen?
Das war eigentlich sogar unser Antrieb. Vorher im „Cookies“ war es ja auch sehr privat und wir wollten wieder so einen Ort schaffen, wo wir unsere Freunde wiedertreffen können bzw. wo sich Freunde wiedersehen können. Ich sehe die Eröffnung eines Restaurants eher als eine menschliche Sache, statt einer baulichen Maßnahme.
Daraus lässt sich schließen, dass dir der Kontakt zu den Menschen sehr wichtig ist?
Ich bin Rheinländer! Das ist doch klar. Das liegt in unserem Wesen. Bei uns im Restaurant hat man ja ständig mit fremden Menschen zu tun aber genau das macht uns eine große Freude. Ich finde es manchmal seltsam, wenn man in Berlin irgendwo reingeht und keine schöne Konversation führen kann, sondern einem pampig entgegen getreten wird . Das verstehe ich nicht! Die Berliner Schnauze ist nicht unbedingt Smalltalk kompatibel.
Habt ihr regelmäßigen Kontakt zu Menschen aus der Kunst- und Galerieszene in Berlin?
Da sind natürlich auch viele Freunde dabei. Man trifft sich ständig. Wir schauen uns viel Kunst an. Wenn wir eine super Arbeit für den Grill sehen und Stephan begeistert ist, wird überlegt ob wir sie kaufen können. Aber das ist nicht strategisch, sondern einfach nur Begeisterung.
Verwendet ihr auch Bilder aus Stefans Privatsammlung für das „Grill Royal“?
Ja, auch. Aber wir haben auch Arbeiten von befreundeten Galerien oder Künstlern. Stephan und Thilo haben auch dabei nicht strategisch gehandelt, sondern das eher nach Gefühl gemacht. Wir wollten nichts haben, das zu repräsentativ ist oder zu beeindruckend. Es muss immer ein bisschen beknackt sein, etwas Lustiges. Dinge, bei denen man nicht gleich weiß, ob es Kunst ist oder nicht. Wir wollten eben nicht nur Sachen von einem großen Künstler hinhauen, sondern lieber etwas Skurriles, auch vom Flohmarkt.
War euer Konzept völlig durchgeplant oder findest du, dass solche Dinge Zeit brauchen, um zu wachsen und sich zu entwickeln?
Konzepte müssen immer wachsen. Es sind auch während der Bauphase viele Ideen entstanden, die umgesetzt wurden. Aber man muss eine Grundidee haben, an die man sich halten kann. Und diese Idee muss funktionieren und ein wirkliches Bedürfnis sein. ?Wir wollten einen großen und eleganten Raum schaffen. Ich mag diesen International Style, die 50er und 60er, etwas flacher alles. Etwas, was es in Berlin noch nicht so oft gibt.
Hat sich dein persönliches Bild von Berlin gewandelt in den Jahren? Wie würdest du die Entwicklung der Stadt beschreiben?
Ich würde sagen, Berlin normalisiert sich langsam. Das ist vielleicht schade, vielleicht auch gut so. Vor zehn Jahren war es noch sehr fragmentiert, es gab keine wirkliche Gesellschaft. Vor zehn Jahren gab es auch keine Arbeit, man konnte nichts machen. Auch wenn man super Konzepte und Ideen hatte, lief eben einfach nichts, da war nichts los. Jetzt hingegen ist es anders. Es gibt Leben, alle kommen nach Berlin, alle präsentieren und repräsentieren hier alles Mögliche. Im Vergleich zu damals, läuft heute auf jeden Fall vieles runder.
Gibt es irgendwelche unvergesslichen Momente, die dir im Zusammenhang mit deiner Arbeit passiert sind?
Ja, na klar. Da gab es einige. Das Straßenfest zum Beispiel. Da waren wir dann fertig mit diesen unsagbar vielen Genehmigungen, die man dafür benötigt. Das war gegen elf Uhr Vormittags. Und es war einfach kein Mensch anwesend auf dem Fest. Niemand. Dann haben wir gedacht, ok trinken wir erst mal einen Mai Tai und wenn es nichts wird, dann war es einfach nur ein sehr teurer Spaß. Nach drei Stunden waren da aber plötzlich 5000 Leute. Und das war wirklich überwältigend. So etwas hätten wir nie gedacht. Wenn du ein Straßenfest machst, weiß du ja nie was passiert, man erhält keine Rückmeldung. Im zweiten Jahr hat es dann geregnet und dennoch waren so viele Leute da. Aber leider wurde das Straßenfest später verboten.
Was bedeuet ein „gepflegter Auftritt“ für dich, für einen Menschen in deiner Position?
Das kann ich so gar nicht sagen. Ich fühle mich einfach wohl in bestimmten Kleidungsstücken, in bestimmten Schuhen. Andere Sachen, wie zum Beispiel Sneaker oder Jogginghosen, besitze ich nicht einmal. Ich finde, solche Sachen passen auch einfach nicht zu mir.
Was sind deine Lieblingsläden? Wo gehst du gerne einkaufen?
In Berlin gehe ich eigentlich nicht einkaufen. Außer im Quartier 206. Wenn dann nur maßgeschneidert oder in Neapel. Langsam bekommen aber auch die Italiener einen internationalen Stil und es sieht dann doch alles gleich aus. Mittlerweile sieht eine Burberry-Kollektion einer Ferragamo-Kollektion deutlich ähnlicher, als das vor einigen Jahren noch der Fall war. Diese Entwicklung gefällt mir nicht.
Bei dem Konzept vom „Grill Royal“ wurde doch sehr viel Wert auf Details gelegt. Machst du das in deiner Wohnung auch? An der Wohnung arbeite ich eher langsam. Man kauft mal was, einen alten Tisch beispielsweise und nach einem halben Jahr gefällt er einem doch nicht mehr und man verändert wieder etwas. Beim „Grill Royal“ hatten wir ja extremen Zeitdruck und mussten fertig werden. Für mich persönlich ist das gut, ansonsten würde ich nie zu einem Ende kommen. Ich überlege sonst zu lange. Die Wohnung wird wahrscheinlich erst in zwei Jahren wirklich fertig sein. Ich wohne hier nun seit 1,5 Jahren und es hängt noch kein Bild an der Wand.
Ich liebe auch Moabit, vor alle die Südseite. Ich lebe schon seit sieben Jahren hier und Tiergarten ist für mich sowieso das Beste.
Empfängst du auch oft privat Gäste, um sie kulinarisch zu verwöhnen?
Früher sehr oft. Vor allem während des Studiums. Als ich noch in WGs gewohnt habe, musste ich ständig kochen und auch an allen Festtagen mit der Familie musste ich an den Herd. Die ersten zwei, drei Jahre vom „Grill“ hatte ich dann kaum mehr Zeit dafür, mittlerweile wird es aber wieder mehr. Und wenn, dann gibt es am liebsten Schmorgerichte. ?Ich bin ja auch so aufgewachsen, dass ich es gewöhnt war, ständig Gäste zu haben. Auf ein Bier wenigstens. In Berlin meldet man sich ja quasi schon eine Woche vorher dafür an. Diese Entwicklung finde ich schon seltsam. Vielleicht ist es aber auch einfach großstädtisches Verhalten. Selbst wenn man in derselben Straße wohnt, sieht man sich sehr selten und kann nicht einfach auf ein Glas Wein vorbeikommen.
Findet man überhaupt noch Platten bei dir im Schrank?
Naja, nicht im Schrank, aber im Laden. Sie werden jetzt ins Landhaus gebracht. Es waren mal 5000 Stück, jetzt nicht mehr. Ich habe viele verloren durch Einbrüche in den alten Clubs. Ich sammle aber Soul, Funk und Jazz und auch ein bisschen Rock, alles bis 1983/84.
Erzähl uns von deinem Landhaus!?
Julius ist ja schon ziemlich lange da draußen. Ein Teil des Hauses, welches sich in Teltow befindet, war noch frei und da ich es so schön fand, habe ich mir gedacht, ich mach das einfach ein paar Tage die Woche. Es ist ein super Ausgleich zum Stadtleben.
Das „Kingsize“ ist das aktuelle Projekt. Kannst du dir die Beliebtheit dessen momentan erklären?
Es gibt einfach nur wenige Orte wie diesen. So etwas müsste es eigentlich alle 500 Meter geben in der Innenstadt. Wo man einfach reingehen kann, ein Bier trinken, sich wohlfühlen ohne Eintritt zu zahlen. Club ist einfach anstrengend, da braucht man auch noch Türsteher etc.
Was sind deine persönlichen Berliner Geheimtipps?
Salumeria da Pino, Windscheidtstrasse. Herrlich. Christian Lohse im Regent mittags.
Gehst du auch noch immer feiern in Berlin, wenn du mal frei hast?
Also Diskos eher nicht mehr so. Ich glaube, ich war seit 1,5 Jahren nicht mehr in der Panoramabar. Ich schaff das nicht mehr.
Welche Magazine liest du momentan am liebsten?
Ich lese natürlich Tageszeitungen. Kaufen tue ich aber eher nur HiFi-Magazine, lustigerweise.
Meinst du, es ist mittlerweile einfacher für euch als Team und für dich als Person ein Konzept umzusetzen?
Ja, auf jeden Fall. Wir haben mittlerweile einen großen Mitarbeiterstamm. Auch was das Thema Buchhaltung, Beratung, Händler usw. betrifft, haben wir natürlich viele Erfahrungen sammeln können. Das ist alles mittlerweile viel einfacher geworden. Ein Konzept kann gut sein, aber damit sich ein Laden auch halten kann, muss es auch wirklich funktionieren. Das darf man nicht unterschätzen. Bei der Eröffnung ist noch jeder da, vor allem in Berlin, aber die Gäste müssen ja auch wieder kommen.
Was unternimmst du, wenn du mal so richtig abschalten musst von allem?
Eigentlich mache ich immer dasselbe. Ich gehe sehr viel spazieren. Ich laufe fast jeden Tag zehn Kilometer zu Fuß mit meinem Hund. Oder ich koche eben ein Schmorgericht, einen Sauerbraten zum Beispiel.
Wir bedanken uns vielmals für das Gespräch. Mehr Infos zu den im Interview erwähnten Gastronomiebetrieben gibt es auf den Websites von Grill Royal und Kingsize.
Interview: Deana Mrkaja, Tim Seifert
Text: Claudine Braendle, Mirna Funk
Fotos: Ailine Liefeld